Verband der Beratungsstellen für Betroffene
rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e.V.
Schlesische Str. 20
10997 Berlin
Berlin, 2. September 2020
Pressemitteilung anlässlich der Anhörung des Kabinettsausschusses zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus
Der Kabinettsausschuss muss die Überlebenden und Hinterbliebenen rechtsterroristischer, rassistischer und antisemitischer Attentate und Gewalt zu einer eigenen Anhörung einladen
Wir brauchen eine konkrete Agenda gegen Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus, die die Situation von Betroffenen rassistischer, antisemitischer und rechtsextremer Gewalt tatsächlich verbessert – und keine Symbolpolitik!
Gemeinsam mit anderen Initiativen, Verbände, NGOs und Wissenschaftler*innen ist auch der Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e.V. heute zum Kabinettsausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus eingeladen worden. Ob sich die hunderten von Betroffenen rassistischer, rechter und antisemitischer Gewalt und die sie unterstützenden VBRG-Mitgliedsorganisationen über diese Einladung freuen werden, wird sich allerdings erst zeigen, wenn der Kabinettsausschuss eine konkrete Agenda gegen Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus beschließt und auf Symbolpolitik und Sonntagsreden verzichtet.
Der Perspektive der Angegriffenen – der Hinterbliebenen und Überlebenden der rechtsterroristischen Attentate von Hanau und Halle, der hunderten von rassistischer Alltagsgewalt Traumatisierten und Verletzten – Gehör zu verschaffen und in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus zu stellen, ist seit zwei Jahrzehnten das zentrale Anliegen der spezialisierten und professionellen Beratungsstellen. Daraus ergeben sich auch unsere Forderungen:
- Bundeskanzlerin Angela Merkel und der gesamte Kabinettsausschuss müssen in einer separaten Anhörung die Überlebenden und Hinterbliebenen der rassistisch, antisemitisch und rechtsterroristisch motivierten Attentate von Halle und Hanau, der Familie Lübcke und Überlebende tödlicher rassistischer Gewalt seit 1990 anhören. Der Kabinettsausschuss muss sich mit ihrer Expertise und ihren Forderungen auseinandersetzen und bei den Maßnahmen berücksichtigen. Kondolenzbesuche durch Bundespräsident Steinmeier wie etwa in Hanau sind wichtig, aber haben keinen Einfluss auf Regierungshandeln.
- Überlebende und Hinterbliebene rechtsterroristischer, rassistischer und antisemitischer Attentate und schwerer Gewalttaten benötigen eine neu zu schaffende, unbürokratische Grundrente mit einer adäquaten Existenzsicherung. Durch die mörderische Dimension von Rassismus, Antisemitismus und rechter Gewalt werden Arbeitnehmer*innen, Studierende, Schüler*innen – ohne eigenes Zutun, alleine weil ihnen in der Ideologie der Täter die Existenzberechtigung abgesprochen wird – plötzlich zu Hilfebedürftigen in einem Hilfesystem von Landesversorgungs- und Sozialämtern, das sie zu Bittsteller*innen degradiert und ihre Anliegen oftmals zu langsam und mit institutionellem Rassismus behandelt. Die Unterstützung durch den Opferbeauftragten der Bundesregierung und das Bundesamt für Justiz haben zwar wichtige Signalwirkung, aber sie bieten keine langfristige existenzsichernde Perspektive für ein Leben nach traumatischer Gewalterfahrung in Würde.
- Das Bundeskabinett muss endlich eine Erweiterung des Opferschutzes im Aufenthaltsgesetz beschließen und sich damit den politischen Zielen der Rechtsextremen entgegenstellen. Dafür muss es ein Gesetzesvorhaben für ein humanitäres Bleiberecht für Betroffene rassistischer Gewalt ohne festen Aufenthaltsstatus auf den Weg bringen – durch eine Erweiterung von 25AufenthG. Es kann nicht sein, dass Täter*innen profitieren, weil abgeschobene Opfer nicht mehr als Zeug*innen in Strafverfahren aussagen können. Im Übrigen verweisen wir darauf, dass das Aufenthaltsgesetz sonst auch immer wieder zur Generalprävention – und allzu oft gegen die Betroffenen rassistischer Gewalt – genutzt wird.1
- Das Bundeskabinett einigt sich auf eine Ausweitung der Entschädigungsleistungen für Betroffene von rassistisch, antisemitisch und rechtsextrem motivierten schweren Sachbeschädigungen und Brandanschlägen durch das Bundesamt für Justiz. Die Angegriffenen stehen nach den Anschlägen auf Restaurants, Lebensmittelgeschäfte, Shisha-Bars oder Imbisse – wie etwa in Chemnitz, Halle, Hanau und Berlin – buchstäblich vor den Trümmern ihrer Existenz. Bisher gibt es keine Entschädigungsansprüche für zerstörtes Inventar, Renovierungskosten, Sicherungsmaßnahmen oder existenzbedrohende Einnahmeverluste in Folge von Anschlägen.2
- Das Bundeskabinett einigt sich auf eine Studie zu Racial Profiling und Rassismus bei den Polizeibehörden des Bundes und der Länder und ermöglicht damit, das Ausmaß des Problems zu vermessen sowie wirksame Gegenmaßnahmen einzuleiten. Dies wäre ein wichtiger Schritt, um das bei vielen Betroffenen rassistischer und antisemitischer Gewalt erheblich beschädigte Vertrauen in die Strafverfolgungsbehörden – etwa durch die Netzwerke von rechtsextremen Polizisten und Elitesoldaten wie Nordkreuz oder NSU2.0 – wiederherzustellen.3
- Zudem braucht es eine einheitliche und bundesweit verbindliche Arbeitsdefinition von institutionellem und strukturellem Rassismus, die Ausgangspunkt für Fortbildungen, Studien etc. in den Bereichen Polizei, Justiz, Bildung etc. wird. Als Orientierung dient die Definition der Rassismus-Enquete-Kommission des Thüringer Landtags.4
„Wir sind nach den Erfahrungen der letzten Jahre skeptisch, ob sich wirklich substantiell etwas verändern wird“, sagt Robert Kusche vom VBRG e.V.. „Denn am Kabinettstisch sitzen heute auch diejenigen, die die aktuellen Mobilisierungen von Rechts jahrelang verharmlost und unterschätzt und gleichzeitig die Asyl- und Aufenthaltsgesetze massiv verschärft haben.“ Damit wurde und wird es vielen Betroffenen rassistischer Gewalt unmöglich gemacht, einen angstfreien Alltag zu leben. „Wir benötigen daher jetzt eine klare Agenda gegen Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus, die die Situation von Betroffenen wirklich verbessert.“
1 vgl. Stellungnahme zur Sachverständigenanhörung des Bundestags-Innenausschusses zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes „Aufenthaltsrecht für Opfer rechter Gewalt“ vom 26.6.2020, https://verband-brg.de/stellungnahme-zum-entwurf-eines-gesetzes-zur-aenderung-des-aufenthaltsrechts-fuer-opfer-rechter-gewalt/
2 vgl. Offener Brief an Justizministerin Christine Lambrecht: Rassismus und Antisemitismus vernichten wirtschaftliche Existenzen vom 12.5.2020
3 vgl. Pressemitteilung des Deutschen Instituts für Menschenrechte vom 24.7.2020: Stellungnahme zu Racial Profiling – Bund und Länder müssen polizeiliche Praxis überprüfen
4 „Von institutionellem Rassismus kann gesprochen werden, wenn durch individuell und/oder gemeinschaftlich geteilte Wertvorstellungen und Verhaltensweisen regelmäßig in alltäglichen Routinen und Ritualen zum Nachteil der von Rassismus und Diskriminierung Betroffenen gehandelt wird. Gemeint sind mit ‚Institutionen‘ Regelsysteme sozialer Art, mithin verfestigte Rollenerwartungen zwischen Menschen mit festen Handlungserwartungen.“ Auszug aus dem Bericht der Rassismus-Enquete-Kommission des Thüringer Landtags; S. 64.; siehe auch S.59 ff.