Diesmal aus Bayern und unter Mitwirkung von B.U.D. Bayern: Vor kurzem wurde die neue Folge der Podcastserie „Vor Ort – gegen Rassismus, Antisemitismus und rechte Gewalt“ von NSU Watch und VBRG e.V. veröffentlicht. Im Mittelpunkt stehen der bis heute weitgehend vergessene Sprengstoffanschlag des sogenannten „Nationalsozialistischen Untergrunds“ am 23. Juni 1999 auf Mehmet O. und die von ihm betriebene Pilsbar „Sonnenschein“ in Nürnberg sowie die Aufklärungsarbeit des 2. NSU-Untersuchungsausschusses im Bayerischen Landtag.
Im Gespräch mit dem Überlebenden Mehmet O. und in Interviews mit B.U.D. Bayern-Beraterin Patrycja Kowalska sowie Robert Andreasch von der Antifaschistischen Informations-, Dokumentations- und Archivstelle (a.i.d.a.-Archiv) in München geht es um rassistische Täter-Opfer-Umkehr, verschleppte Ermittlungen und die mangelnde Strafverfolgung gegen Helferinnen und Unterstützerinnen des NSU-Kerntrios in Nürnberg.
Mehmet O.: „Der Staat muss aufwachen, die Politiker müssen aufwachen.“
„Sie sind ein NSU-Opfer“ – das hat Mehmet O. erst viele Jahre nach dem Anschlag erfahren. Und nicht etwa von den Behörden, sondern von einem Journalisten. Bekannt geworden war die Täterschaft im Rahmen des NSU-Prozesses in München, von dem Mehmet O. als Nebenkläger ausgeschlossen wurde. Aus Sicht der Justiz fiel es nicht ins Gewicht, ob Beate Zschäpe wegen 33 oder 32 versuchten Morden verurteilt wird. Die Folge ist jedoch, dass Mehmet O dadurch jede Form der Gerechtigkeit, Anerkennung und Wiedergutmachung verwehrt wird. Im ersten Teil des Podcasts schildert er, wie er den Anschlag erlebt hat und wie sich die anschließenden Verdächtigungen, Vertuschungen und rassistischen Ermittlungen auf sein Leben ausgewirkt haben. Durch die Tat wurde sein Lebenstraum zerstört, die körperlichen und seelischen Folgen wirken bis heute nach.
Von den Behörden, die ihn monatelang zu Unrecht beschuldigten, fühlt sich Mehmet O. allein gelassen, das Vertrauen in Polizei und Justiz hat er verloren. „Der Staat hat viel falsch gemacht“, so Mehmet O. im Podcast. „Ich hätte wenigstens eine Entschuldigung erwartet.“ Bis heute wurde niemand für das Attentat auf ihn strafrechtlich zur Verantwortung gezogen, obwohl sich längst neue Hinweise auf mutmaßliche Täter*innen aus dem NSU-Netzwerk ergeben haben. Hinzu kommt die ständige Ungewissheit: „NSU-Komplex, das sind nicht nur drei Leute – meine Meinung. Das ist immer noch da. Was ist passiert? Halle, Hanau… Der Staat muss aufwachen, die Politiker müssen aufwachen. Es kann nicht so weitergehen.“
Patrycja Kowalska: „Die Täter-Opfer-Umkehr ist der rote Faden des NSU-Komplex“
Im zweiten Teil des Podcasts beleuchtet B.U.D. Bayern-Beraterin Patrycja Kowalska drei Phasen, die ausschlaggebend sind für das Vergessen des Anschlags. Sie beschreibt detailliert, wie sich bereits 1999, neben der Täter-Opfer-Umkehr als roter Faden des NSU-Komplexes, eine „Schlussstrich-Mentalität“ in den Ermittlungen zeigt. Patrycja Kowalska begleitet und berät Mehmet O. schon seit vielen Jahren. Ihr Fazit: „Seine Rechte als Überlebender wurden komplett missachtet, und das seit 23 Jahren.“
Den Sprengstoffanschlag auf ihn beschreibt sie als „vergessen“, weil Mehmet O. als Betroffener rechter Gewalt nie anerkannt wurde. Denn der Anschlag ist bis heute weder juristisch noch gesellschaftlich aufgearbeitet. Der Umgang der bayerischen Behörden mit dem Betroffenen sei von Anfang an skandalös gewesen, so Patrycja Kowalska. „Ich schätze seinen Fall als besonders prägnant dafür ein, dass die bayerische Rolle im NSU-Komplex viel zu wenig beleuchtet wurde.“
Robert Andreasch: „Es sind noch so viele Fragen offen.“
Diese Einschätzung teilt auch Robert Andreasch vom a.i.d.a.-Archiv in München. Im dritten Teil des Podcasts äußert er sich insbesondere zum 2. NSU-Untersuchungsausschuss im bayerischen Landtag, der am 19. Mai seine Arbeit aufnahm. „Es sind noch so viele Fragen offen,“ betont Robert Andreasch. Dabei geht es vor allem um unbekannte Unterstützer*innen und Helfer*innen des NSU in Bayern: „Wer hat hier mitgeholfen bei Unterbringung, Durchführung der Attentate und Vertuschung der Spuren? Wer hatte hier Wissen und insbesondere: Ist dieses Wissen aus der Nazi-Szene vielleicht bei den bayerischen Behörden gelandet? Dafür spricht einiges“, erklärt Robert Andreasch im Podcast.
Warum ist es so wichtig, dass Unterstützer*innen ermittelt werden? Dazu nennt er vor allem zwei Gründe: „Das eine ist die furchtbare Konsequenz und Straflosigkeit, die die Nazi-Szene einfach hat. Es ist ja im Prinzip ein Witz, was passiert bzw. nicht passiert ist nach der Enttarnung des NSU. Es ist ein Affront gegen die Betroffenen, als sei ihr Leid und Schicksal nicht wichtig genug, dass man jetzt hier mal Tabula Rasa macht.“ Der zweite Grund sei schlichtweg die bestehende Gefahr: „Die damals nicht zerschlagenen Neonazi-Netzwerke – die gibt es ja noch in Bayern.“
Hier geht’s zum Podcast.
Weitere Links zum Thema:
Beratung und Unterstützung für Betroffene rechter Gewalt in Bayern: B.U.D Bayern
Aus Nürnberg: Episode 4 der Webdokumentation gegen uns: „Neonazi-Gewalt, rassistische Polizeiarbeit und Solidarität“
NSU Watch: Der vergessene Anschlag des NSU
Anerkennen.Aufklären.Verändern. NSU Tribunal am 02.-04.06.2022 in Nürnberg
Interview zum 2. NSU-Untersuchungsausschuss des Bayerischen Landtags: „Es wird öffentlichen Druck brauchen“
Einsetzungsbeschluss zum 2. NSU Untersuchungsausschuss des Bayerischen Landtags
Abschlussbericht des 1. NSU Untersuchungsausschuss des Bayerischen Landtags